Mitten im Leben: Videospiele und die Gesellschaft

Wenn die Branche sich medienpolitisch selbst posi-tionieren soll, dann wird von PR-Profis gerne eine Floskel bemüht, die so vage wie allumfassend ist: „Videospiele sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen.“ Aber was heißt das eigentlich? Wo ist die Mitte der Gesellschaft und welche Spiele finden wir dort?

Das Problem einer solchen Aussage ist ihre Verifizierbarkeit. Aber das hat die Branche schon lange erkannt und dank Umfragen, Studien und Statistiken immer neue Zahlen und Argumente parat, die gerade das untermauern, was eben gefordert ist. Ob diese aber tatsächlich eine Entwicklung spiegeln oder ob hier Augenwischerei betrieben wird, dass galt es uns herauszufinden. Ganz getreu dem geflügelten Wort „Trau keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast“ haben wir – empirisch nicht repräsentativ und willkürlich ausgewählt – Menschen mitten im Leben zu ihren Spielgewohnheiten befragt. An einem durchschnittlichen Tag haben wir uns deshalb in der Hamburger Innenstadt auf der Mönckebergstraße umgehört. Das Ergebnis ist verblüffend und vorhersehbar zugleich.

Glaubt man der aktuellsten Studie „Gaming in Deutschland“, die der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (kurz BITKOM) letztes Jahr vorgelegt hat, dann spielt fast jeder dritte Deutsche Computerspiele. Betrachtet man den Trend weltweit, lässt sich diese Aussage noch verschärfen: die US-amerikanische Entertainment Software Association (ESA) stellte in ihrer Studie „Essential Facts about the Computer and Video Game Industry“ Zahlen vor, nach denen fast dreiviertel aller US-Haushalte Videospiele spielen. Auf den Straßen Hamburgs jedoch ließ sich eine so positive Sicht der Dinge nicht bestätigen, denn die einfache und ohne vorherige Erklärungen gestellte Frage: „Spielen Sie Computerspiele?“ beantworteten nahezu alle Befragten mit einem deutlichen „Nein“. Dabei war es nahezu egal, welchem Geschlecht, welcher Alterskategorie oder welcher sozialen Gruppe sie angehörig waren. Einzige Ausnahme hier waren jugendliche Befragte, die variabler antworteten und unter denen fast alle Formen von Games verbreitet waren.

Sag mir was du spielst …

„Computerspiele finde ich zum Kotzen. Da geht jegliche Form zwischenmenschlichen Kontakts verloren.“ Auch wenn Aussagen, wie diese von Heike K. (55 Jahre, Angestellte) nicht zur Norm gehören, so scheint hier ein grundlegendes Imageproblem vorzuliegen. Denn interessanterweise gaben viele Befragte auf Nachfrage, ob sie nicht mal auf dem Handy spielen würden an, dass sie sehr wohl ab und zu Casual Games nutzen. Klassische Spiele wie Solitär und Mahjong führen dabei die Rangliste an, aber auch Angry Birds oder Fruit Ninja sind genannt worden. „Computerspiele sind nicht meine Welt“, sagte beispielsweise Uta C. (34 Jahre, Kauffrau), gab dann aber auf direkte Nachfrage an, dass sie gerne mal Angry Birds in der U-Bahn spiele: „Das ist doch was anderes, nur so zwischendurch.“ Und auch Peter J. (42 Jahre, Busfahrer) sagte, er habe keine Zeit für Computerspiele nur um dann auszuführen: „Wenn ich beim Arzt warten muss oder in der Pause zwischen Fahrten, dann spiele ich manchmal Solitär auf meinem Handy.“

Die erste, negative Reaktion auf die Frage nach Computerspielen verdeutlicht ein Bild in den Köpfen der Menschen dazu, was ein Computerspiel ausmacht. Und wenn selbst jemand wie die 19-jährige Schülerin Julia D. sofort den Kopf schüttelt und mit Computerspielen nichts zu tun haben will, obwohl bei direkter Nachfrage sehr wohl Abende mit Freunden vor der Wii verbracht wurden, dann entspricht dies einem Trend, den die Studien zwar tendenziell erfassen, aber eben nicht explizit mit der Wahrnehmung von Spielen in Verbindung bringen. So stellt die ESA fest, dass mehr als die Hälfte aller Spieler auf ihrem Telefon spielt und auch die BITKOM-Studie bestätigt diese Zahlen. Diese Nutzer sehen sich aber nicht als Spieler, ihre Selbstwahrnehmung ist eine völlig andere. Dabei sind Casual Gamer, aber auch Social Gamer sehr weit verbreitet. Thomas M. (23 Jahre, Student) meint zum Beispiel: „In meinem Freundeskreis sind viele, die auf Facebook spielen: Farmville, Poker, Scrabble, Civilization, eigentlich egal. Die meisten hängen auf Social Network-Seiten rum, und dann spielt man halt nebenbei.“

Du bist der Kontroller

Und noch ein anderer Aspekt des sich wandelnden Gaming-Images wird in der Umfrage deutlich, denn Spielekonsolen werden immer variabler und Spiele entsprechen nicht mehr dem medial verbreiteten Bild des Ego-Shooters oder MMORPGs. Ingrid (44 Jahre, Hausfrau) und Klaus H. (42 Jahre, Steuerberater) haben dank ihrer fünf Kindern von fast jeder Konsole mindestens ein Exemplar im Haus. Auch sie antworteten zuerst, sie würden keine Computerspiele spielen: „Das machen unsere Kinder, die haben da mehr Spaß dran.“ Bei genauerer Nachfrage gab Ingrid aber dann doch etwas schüchtern zu, dass sie die Wii als Familienkonsole erstanden hätten. „Ich habe so eine Matte dafür, damit mache ich meinen Sport.“ Nur als Computerspiel hat sie das nie betrachtet, schließlich sei sie dabei ja körperlich aktiv. Die voll im Trend liegenden Party-, Sing- und Bewegungsspielen, denen auch die BITKOM-Studie das größte Wachstum zuspricht, werden von den wenigsten als typische Computerspiele gewertet. Auch Minispiele erfreuen sich im Zuge dieser Zeitenwende einer großen Beliebtheit und revolutionieren das gesellchaftliche Spielverhalten. Insbesondere die Wii hat dank ihres Einzuges in die Kinderzimmer immer mehr Einfluss auch auf erwachsene Spieler wie Michael K. (54 Jahre, Kaufmann): „Meine Kinder spielen viel und da macht man dann auch mal mit. Hat mich selber überrascht wie viel Spaß das macht. Die haben da ganz viele Spiele, bei denen man vor dem Fernseher rumhampeln muss.“

Hardcore-Gamer und Games-Affinität

Neue Spielformen wie Casual oder Social Games haben sich zwar in ihrer Nutzung in der breiten Öffentlichkeit durchgesetzt, werden aber von einem großen Teil der Gesellschaft gar nicht als typische Computerspiele wahrgenommen. Wenn das aber der Fall ist, muss man sich wohl fragen, wen die Gesellschaft dann als Spieler wahrnimmt? Auf die Frage, wer in ihrem Umfeld spielt, war die einhellige Aussage der Befragten, das ausschließlich die junge Generation spiele. Und obwohl es Ausnahmen wie Rentner Holger H. (73 Jahre) gibt, der bereits seit den frühen 1980er Jahren eine Vorliebe für Adventure hat, war sonst keiner der über 60-Jährigen an Computerspielen interessiert, während die unter 20-Jährigen – wiederum mit einer Ausnahme – alle zumindest manchmal zum Computerspiel griffen. Dies deckt sich mit der BITKOM-Studie, die knapp dreiviertel aller Spieler unter 30 Jahren ansiedelt und gerade einmal 5% im Rentenalter ausfindig macht. In den USA sieht dies schon etwas anders aus, hier prophezeit die ESA-Studie einen Trend zum Spielen im Alter: bereits heute sind knapp 30% aller Spieler über 50 Jahre alt und der durchschnittliche Spieler sei 37 Jahre alt. Aber auch in der Gruppe der ‚echten‘ Spieler ist in Hinsicht auf die Wahl der Spiele keine medial-stilisierte Dominanz von Shooter oder MMORPGs auszumachen, wie Sam S. (17 Jahre, Schüler) bestätigt: „Ich spiele alles. Hab einen DS, ein iPhone, ’nen PC und ’ne PS3 zu Hause.“ Und auch Jennifer B. (13, Schülerin) ist variabel: „Am liebsten mit Freunden SingStar oder Wii. Allein spiele ich auf dem iPhone Angry Birds. Und auf Facebook manchmal.“

Als Fazit bleibt also die Feststellung, das Computerspiele dank der neuen Kommunikations-technologien und innovativer Spielformen eine weit größere Verbreitung erfahren als noch vor ein paar Jahren und somit schon als in der Mitte der Gesellschaft angekommen präsentiert werden können. Doch die Wahrnehmung der Branche in der Gesellschaft und damit die sozialen Vorurteile gegen Computerspiele hat dies nur wenig berührt. Die meisten Spieler sehen sich gar nicht als solche und bewerten Computerspiele daher immer noch als Unterhaltungsform für Jugendliche. Ein interessantes Nebenprodukt ergab die Recherche noch: der klassische Spieleabend mit Brett- oder Kartenspielen, den die Wii-Generation Partyspiele zu bedrohen schien ist immer noch quicklebendig. Sandra A (40 Jahre, Verkäuferin) spricht stellvertretend für fast alle Befragten, wenn sie sagt: „Wir haben das mit der Wii mal ausprobiert, haben uns kaputt gelacht und sind dann zu normalen Brettspielen zurückgekehrt. Das ist auf Dauer doch unterhaltsamer.“  (ls)

Ursprünglich erschienen in IGM 05/2012.