Karneval und Berliner Luft
Berlin scheint eine magische Anziehungskraft zu haben. Wenn Künstler neuen Antrieb brauchen, so wie David Bowie und Iggy Pop in den Siebzigern, dann kommen sie gerne nach Berlin. So erging es auch Chris Corner, dem ex-Frontmann der Sneaker Pimps. Sein Projekt IAMX steckte nach dem Debüt „Kiss + Swallow“ ebenso in der Krise, wie er selbst. Um sich nicht zu verrennen, packte er einfach seine Sachen und zog nach Berlin: „In London herrscht mehr Konkurrenz unter Musikern, es geht darum, wer es schafft. Das scheint in Berlin alles viel entspannter zu sein,“ erklärt Chris den Unterschied zwischen den beiden Städten. In Berlin jage man weniger seinen eigenen Schwanz, sagt er und lacht: „In London war ich wie in einer Schleife. Ich war nicht entspannt genug, die Dinge zu tun, die ich wollte, und vor allem sie so zu tun, wie ich es wollte. In Berlin setze ich mir die Deadlines, niemand sonst.“ Und man hört die Entspanntheit mit der Chris sein eigenes Ding durchzieht. Die Platte ist locker, aufgeräumt und oft sogar verspielt. So hat Chris sich vom düsteren und cluborientierten Sound der ersten CD entfernt. „The Alternative“ wartet mit organischeren Klängen auf. So kann man ein Akkordeon vernehmen, und sogar ein Walzer-Rhythmus findet den Weg in die Musik, die dadurch teilweise an Zirkus und Zigeuner erinnert. „Stimmt“, bestätigt Chris, „das Groteske des Karnevals ist etwas, das unserer Kultur fehlt. Hier ist alles so perfekt, wie gemalt. Es ist nicht echt. Mir aber geht es um die Fehler in den Menschen. Und das ist etwas, das in diese Platte geflossen ist. Ein animalisches Element.“ Ein Aspekt, den Chris in seinen Live-Auftritten auslebt, von denen er selbst sagt, dass sie ihn in einen völlig anderen Menschen verwandeln: „Ich lasse es geschehen, anstatt es zu kontrollieren. Das passiert sonst nur, wenn ich saufe, was ich nicht so oft tue. Das hier ist die nette Art, etwas raus zu lassen. Ich treibe einen Geist aus.“ Und wenn man „The Alternative“ hört, dann scheint es, als habe es funktioniert. Berlin ist halt magisch.
Der Artikel ist erschienen im WOM Magazin Ausgabe 05/06.
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