KulturLiteratur

Buch-Tipp: Naomi Alderman – Die Gabe

Angesichts von #metoo und der Omnipräsenz männlicher Übergriffigkeit könnte man Naomi Aldermans Roman Die Gabe als eindringliche Warnung verstehen und darin die notwendige Antwort auf unsere Zeit lesen. Frau Alderman selbst sagte in einem Interview mit der New York Times, dass sie nicht auf die Debatte reagiert hätte (der Roman ist zwischen 2014 und 2015 geschrieben worden), sondern auf eine Präsenz frauenverachtender Rhetorik vor allem im Internet. Ihr Roman, so Alderman, adressiere die Hasskommentare und Vergewaltigungsdrohungen in einschlägigen Foren als gesellschaftliches Problem, stelle sich aber eben auch der Frage, ob diese wirklich so leicht unter dem Stempel der „toxischen Männlichkeit“ abzutun sind oder ob hier vielmehr ein Phänomen vorliegt, dass in sehr wenigen Menschen zum Vorschein kommt, die es mit ihrem Sadismus für den Rest von uns versauen. Ob es vielleicht nicht eine Frage des Gender sondern der Macht ist? Etwas, das im Originaltitel des Romans deutlich wird: The Power bezeichnet gleichermaßen politische oder physische Macht, elektrische Energie, (über-)menschliche Befähigung.

Die Gabe spielt in einer realistisch gezeichneten Welt wie der unsrigen, nur dass eine biologische Entwicklung die Machtverhältnisse ins Wanken bringt. Wie andere Veränderungen des Körpers entdecken junge Frauen in der Pubertät, dass sich in ihnen eine Energie angesammelt hat, die sie kontrolliert über ihre Haut abgegeben können – sie können Stromschläge auslösen. Diese Gabe ist nicht in allen Frauen gleichermaßen stark vorhanden und tritt wie andere biologische Merkmale ganz unterschiedlich in der Population auf. Der Roman folgt den Erlebnissen von vier Charakteren, die über einen Zeitraum mehrere Jahre die Veränderungen nachzeichnen, die eine solche Machtverschiebung mit sich bringt. Er beginnt mit dem vorsichtigen Herantasten an die neue Situation, mit jungen Frauen, die sich gegen Misshandlung und Unrecht aufbäumen, so wie die junge Waise Allie, die sich mit einem gewaltigen Stromstoß gegen die Vergewaltigung durch ihren Vormund wehrt. Allie flieht vor der Polizei und gelangt in ein Kloster, wo sie durch Manipulation, Glück und gute PR auf YouTube zur Hohepriesterin einer neuen Religion wird – unter dem Namen Eve ruft sie einen neochristlichen Kult aus, der auf Gott als Frau basiert und die Bibel quasi weiblich neu interpretiert. Anspielungen auf christlichen Fundamentalismus und dessen Anspruch auf Deutungshoheit über alle persönlichen Entscheidungen der Menschen fehlen also nicht.

Doch auch global politisch zeichnet der Roman die Misshandlungen nach, die Frauen widerfahren, vom ‚Mansplaining’ eines inkompetenten Vorgesetzten und dessen Machttrieb, dem eine US-Politikerin ausgesetzt ist, bis zur erzwungenen Prostitution und Menschenhandel, die ein junger nigerianischer Reporter in der Republik Moldau aufdeckt. Die verschiedenen Stufen eines solchen Verhaltens werden hier nicht gleichgesetzt, zeigen aber in ihrer Gesamtheit die systemische Unterdrückung auf, die sich überall findet. Die Gabe, elektrische Stöße einzusetzen, macht aus dem vermeintlich „schwächeren“ Geschlecht nun eindeutig das stärkere und Alderman zeigt, welche positiven Einflüsse diese Umkehr mit sich bringt. Regime werden gestürzt, neue Gemeinschaften gebildet, Zentren für die Erziehung junger Frauen gebaut … und doch schwingt schon zu diesem Zeitpunkt ein leichtes Unwohlsein beim Lesen mit, wenn der vertriebene König von Saudi-Arabien eine Privatarmee zur Frauenjagd ausbildet oder sich US-TV Persönlichkeiten mit Weichspülrhetorik über die Zwangsprüfung aller weiblichen Staatsbediensteten äußern.

Das Persönliche und das Politische vermengen sich schnell und die Situation eskaliert. Plötzlich sind es Frauen, die ihre Macht ausnutzen. Das Regime der Präsidentin von Moldau ist ebenso autokratisch und menschenverachtend wie das ihres Mannes, den sie dank eines Herzinfarkts „beerbt“ hat. Marodierende Horden von auf Rache gesinnten Frauen machen keinen Unterschied zwischen Tätern und Unschuldigen, Gewalt gegen Männer wird allgegenwärtig und auch brutale, sadistische Folter und Vergewaltigung finden statt. Im Konflikt, der von beiden Seiten brutal geführt wird, ist der Verlust an Menschlichkeit vorprogrammiert.

Alderman liefert diesen Blick auf das Verhältnis der Geschlechter mittels einer doppelten Erzählebene. Die vier Charaktere und ihre Erfahrungen sind authentische Zeugen ihrer Zeit, doch diese Chroniken werden gebrochen durch eine ironisch-distanzierende Bewertung in der Rahmung des Buchs. In einem Email-Austausch, hunderte Jahre später und in einer Art zweitem zivilisatorischen Zyklus werden die Entwicklungen und als natürlich bewerteten Situationen gebrochen und neu perspektiviert.  Ähnlich des Epilogs von Margaret Atwoods Der Report der Magd ist dieser Teil des Buchs leicht zu übersehen, verändert doch aber die Evaluation der Zeitzeugnisse und damit die Lesart des Buchs. Nicht umsonst wurde das Buch mit Atwoods 1985 erschienenem Buch verglichen. So ist Alderman ein Protegé der kanadischen Grand Dame der Literatur und deutlich durch sie beeinflusst. Doch wichtiger noch: beide Romane zeigen Dystopien auf, die in einer fernen Zukunft spielen und doch auf verstörende Weise ein Hier und Jetzt kommentieren, das vor allem daran erkrankt, dass ein kleiner Teil der Menschheit rücksichtslos die Macht ausnutzt, die im gegeben ist. Beide Romane sind Produkte ihrer Zeit, die von feministischen Themen der Gleichberechtigung handeln und zum Nachdenken über Ideologien anregen sollen. Atwood reagierte auf Ronald Reagan und den konservativen politischen Schwenk zum christlichen Fundamentalismus der 1980er Jahre. Und Alderman reagiert auf dieselben Tendenzen, 30 Jahre später, vorangetrieben von einer neuen Generation und verstärkt durch die Echokammern des Internet. Somit ist Die Gabe weniger eine Antwort auf #metoo, als eine weitere Anklage im selben Kontext.

Ursprünglich erschienen im SF Jahr 2018, Golkonda