Strange World: Schlechtes Marketing oder zu progressiver Inhalt?
Lars Schmeink geht der Frage nach, warum der Film „Strange World“ an den Kinokassen so gefloppt ist, erklärt, warum das zu Unrecht geschehen ist, was diesen progressiven Film so besonders macht und warum er sich ganz auf der Höhe der Zeit befindet.
Habt Ihr den Trailer zu „Strange World“ im Kino gesehen? Und den Film? Nicht? Da geht es Euch wie den meisten anderen Zuschauern weltweit. Der Film ist an den Kinokassen untergegangen. Und dass, obwohl der Disney-Film mit einem fetten Budget ausgestattet war und kurz vor Weihnachten in die Kinos kam. Noch dazu ist es ein Feel-Good-Movie für die ganze Familie — also was ist da los?
Ok, der Film ist nicht auf der Höhe von „Die Eiskönigin“ und bietet keine Mitsing-Musicalnummern, aber dafür eine wundervolle, fantastische Welt, tolle Charaktere und mehr Vielfalt als alle anderen Disney-Filme zusammen. Und das meine ich jetzt im Sinne einer extrem sozial-bewussten Politik, ganz so wie die auch hier auf der Plattform vielbeschworene „Progressive Phantastik“. Ist es aber vielleicht genau das, was den Film für Disney so problematisch machte? Denn klar ist, Disney hat das Marketing völlig in den Sand gesetzt, den Film in mehr als 30 Territorien aus Angst vor Repressalien gar nicht erst in die Kinos gebracht und ihn in anderen fast schon totgeschwiegen. Zum Glück gab es einen schnellen Release auf Disney+, wo der Film dann doch noch ein Publikum gefunden hat. Aber immer noch zu wenig, um nicht als Verlust abgeschrieben zu werden.
Es liegt also vielleicht doch an der Politik des Films, der kurz vor „Avatar 2 – Der Weg des Wassers“ in die Kinos kam und eine ähnlich atemberaubende Welt zeichnet, dabei aber wie ein Anti-Avatar voll und ganz auf progressive Werte und hoffnungsvoll-heilsame Botschaften setzt. Es geht um die Familie Clade und deren Abenteuerleben, das Sohn Searcher an den Nagel hängt, als er eine pflanzliche Energiequelle findet, das Pando, und damit ein eigenes Business aufbaut und eine industrielle Revolution in seiner Heimat Avalonia anzettelt. Dank Pando entstehen Wohlstand und Sicherheit für alle. 25 Jahre später aber gibt es Probleme mit dem Pando, dessen Wurzeln langsam absterben und damit die Energie versiegen lassen. Hier holt das Abenteuer Searcher, dessen Frau Meridian und Sohn Ethan ein. Sie alle brechen auf, um Pando und Avalonia zu retten und gelangen tief im Inneren ihrer Welt in eine fantastische, grandios kreative Szenerie voller seltsamer Kreaturen und Pflanzen, die sie erkunden müssen. Dabei finden sie auch Jaeger Clade wieder, Searchers vor 25 Jahren verschollenen und etwas antiquiert wirkenden Abenteurer-Vater.
Was ist hier so progressiv?
Was aber ist daran jetzt so progressiv, dass ich in glücklich strahlende Social-Justice-Warrior-Pose verfalle und Disney schurkenhaft unterstelle beim Marketing Angst vor der eigenen Courage gehabt zu haben? Naja, zum einen ist die junge Familie Clade ‚multi-ethnisch‘ gezeichnet: während Searcher weiß gelesen wird, ist Meridian schwarz und Sohn Ethan entsprechend ‚bi-racial‘. Callisto Mal, die Präsidentin von Avalonia ist ‚of-color‘, ihre Stimme im Original von der chinesisch-stämmigen Schauspielerin Lucy Liu gesprochen. Auch in Hinsicht auf Genderrollen ist der Film deutlich progressiver als andere Disney-Produktionen: Callisto kann dank draufgängerischem Abenteurer-Verve, ihrer Rolle als Präsidentin und Machtmensch, und in ihrem Äußeren (und im Namen) als ‚nicht gender-konform‘ gelesen werden. Noch deutlicher aber ist, dass mit Ethan erstmals (!) eine eindeutig queere Figur im Mittelpunkt der Geschichte steht. Ethan ist in einen anderen Jungen verliebt, also homo-romantisch (von -sexuell kann bei Disney noch nicht gesprochen werden), was ein zentraler Aspekt der Geschichte ist. Und weil hier nicht einfach ein paar Sekunden geschnitten werden können, um alle LGBTQ-Aspekte auszulöschen, hat sich Disney nicht getraut den Film etwa im Mittleren Osten, Teilen Afrikas oder aber auch in China, Malaysia, Indonesien oder der Türkei in die Kinos zu bringen. Und damit geht eben auch ein dicker Batzen des Kino-Umsatzes flöten.
Mehr noch aber als diese Identitätspolitik, könnte es bei Disney-Bossen in der Produktion unter dem Radar durchgeflogen sein, dass der Film eine schmerzhafte Botschaft in Sachen Klimawandel und der Rolle von Industrie, Wohlstand und generationaler Mitschuld vertritt. Ich würde sogar so weit gehen, dass „Strange World“ sich quasi als eine Art „Don’t Look Up“ für Kiddies ergeht und die nächsten FFF-Aktivisten produziert. Dabei ist der Film nicht gerade subtil in seiner Botschaft, aber deswegen so effektiv.
+++ Achtung, ein paar kleinere Spoiler finden sich in diesem Absatz! +++
Ohne zu sehr ins Detail des Films gehen zu wollen, kann man sagen, dass Jaeger und Searcher Clade beide für überholte Weltbilder einstehen, eventuell sogar als Vertreter der zumindest in den USA weit verbreiteten Boomer- und Millenial-Generationen gelten können. Jaeger repräsentiert die individualistische Leistungsgesellschaft der Boomer-Jahre, zerstört die fragile Umwelt mit einem Flammenwerfer und verfolgt einzig seine egoistischen Ziele der Selbstüberhöhung. Passend dazu ist er der Abenteurer und Entdecker, selbstbestimmter Held der Avalonier — kritisch betrachtet aber der Kolonialherr einer längst überholten Zeit. Doch auch sein Sohn, der sich pazifistisch gegen ihn aufgelehnt hat, ohne je seinen Schatten loszuwerden, ist in denselben toxischen Mechanismen gefangen. Er hat sich für die Service-Gesellschaft und das „grüne Image“ entschieden, seine Pando-Farm bringt Wohlstand und wird als Verbesserung der Welt gefeiert, ist aber auch für Unmengen an Energie-Bedarf verantwortlich. Dabei ist sie ebenso kolonial und raumgreifend, zerstört auf andere Art den Lebensraum Avalonias. Er ist ebenso überzeugt davon, das Richtige zu tun, ein Held zu sein. Beide aber hören nicht auf die jüngere Generation (also Ethan, Gen Z) und deren völlig neuen Ansatz, die Welt zu verstehen, weniger zu brauchen und lieber im Einklang mit der Natur zu leben. Im Film gibt es eine Schlüsselszene, in der die drei Generationen ein Kartenspiel miteinander spielen und sowohl Jaeger als auch Searcher das Spielprinzip von Kooperation und Harmonie mit der Umwelt einfach nicht verstehen wollen. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln, des Bezwingers und des Verwerters der Natur, kommen sie gemeinsam zu der Frage, wen es zu besiegen gilt, wer der Gegner, wer der Bösewicht im Spiel sei? Und Ethan kann nur entnervt aufgeben und die beiden anschreien: „Ihr! Ihr seid der Bösewicht!“ … genau, besser kann man es nicht sagen.
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Einen so aufgeweckten und in seiner Botschaft schlagfertigen Film mögen die Bonzen des weltweit größten, kapitalistischen, kultur-imperialen Unterhaltungskonzerns nicht erwartet haben, als sie die Verträge unterschrieben haben. Die Art und Weise, wie sie aber das Marketing versemmelt haben und den Film aus Angst vor Autokraten und Kleingeistern gar nicht erst einem Publikum vorführen ließen, zeigt wie wichtig seine Botschaft vielleicht doch ist. Das hier ist kindgerecht verpackt eine dringende Warnung an alle Erwachsenen, sich endlich zusammenzureißen und zu akzeptieren, dass die Welt sich ändert, ob sie es wollen oder nicht. Wer den Film noch nicht gesehen hat, der sollte dies schleunigst nachholen, denn ob Big-Disney will oder nicht, wir brauchen mehr solcher Filme. Geben wir ihnen eine Chance produziert zu werden…
Ursprünglich erschienen bei Tor-Online.de