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Verwandlung und Erneuerung

Die Progression von Album zu Album stellt viele Bands vor eine Herausforderung, denn es gilt, sich nicht stumpf zu wiederholen. Für My Chemical Romance wurde diese Herausforderung zur großen Maskerade.

So wie der griechische Gott Proteus seine Gestalt wandelte, um seine Freiheit zu erhalten, haben sich My Chemical Romance für ihr neues Album „The Black Parade“ in eben diese verwandelt. Nach dem für die Band völlig überraschenden Erfolg des zweiten Albums „Three Cheers For Sweet Revenge“ waren sie blockiert, völlig eingefahren in der Schublade des Post-Hardcore, eine Vorreiterrolle für sogenannte „Emo“-Bands war ihnen zugeteilt worden. Mit der Verwandlung in die Black Parade ging es darum, eine Freiheit wiederzufinden, die ihnen als My Chemical Romance abhanden gekommen war: „Wir machen das auch für uns selbst. Wir wollen uns selbst herausfordern und das Ganze interessant halten. Es ist eine große Herausforderung zu einer Ikone zu werden und dieses Bild dann zu zerschmettern. Dann musst du von Null wieder anfangen, was nur wenige Künstler wagen. David Bowie ist so ein Mensch, er liebt es ebenso sich aus dem Nichts zu erschaffen wie wir. Das hält dich fit und dein Gehirn in Gang,“ sagt Gerard Way, der Sänger der Band, und spricht hier aus Erfahrung. Er selbst kam mit dem Druck eine Emo-Ikone zu sein nicht klar und hatte sich bereits während der „Three Cheers“-Zeit einer enormen Wandlung unterziehen müssen. „Ich war damals am Rand des Abgrundes. Die Band wurde so groß, dass ich damit nicht mehr klarkam. Ich nahm zu viele Drogen und ich habe viel über den Tod nachgedacht und die Klinge schon gespürt. Als ich auf Tour nach Japan flog und nichts eingepackt habe, weil ich nicht vorhatte wieder zurückzukommen, da ist mir ein Licht aufgegangen.“ Gerard spricht heute aus sicherer Distanz über seine Sucht und die Selbstzerstörung der damaligen Zeit. Er hat die Wandlung geschafft, sein Leben aufgeräumt und sich in die Arbeit gestürzt. Das Thema Tod jedoch hat ihn nicht losgelassen und es ist das große verbindende Konzept, das „The Black Parade“ beherrscht.

Das Album beginnt mit einem Song der „The End“ heißt und die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der auf dem Totenbett liegt “ der Protagonist des Albums: der Patient. Am Ende des ersten Tracks ist das Geräusch zu hören, das auf Englisch flatline heißt, ein eindringliches Fiepen, das Ende eben. Doch damit beginnt seine Reise erst und er begibt sich durch die Vielzahl an Erinnerungen, die sein Leben ausgemacht haben. „Er reflektiert seine Ängste, seinen Schmerz, die Dinge, die er bedauert, seine Fehler und eben sein ganzes Leben. Doch dann trifft er die schwarze Parade, diese anderen Charaktere, die auch Geschichten haben. Es ist mir wichtig, dass das Album eine Interpretation zulässt. Entweder er ist die ganze Zeit auf dem Totenbett oder er stirbt und befindet sich in dem, was danach kommt. Aber die Option, dass er am Ende noch lebt und eine zweite Chance bekommt gefällt mir besser,“ erklärt Gerard die Geschichte des Albums und scheint sich selber nicht sicher zu sein, wo genau sich der Patient befindet. Es ist der Moment des Dazwischen-Seins, der „The Black Parade“ interessant macht. Die Perspektive einer gewissen Lösung vom Hier und Jetzt, die es dem Patienten erlaubt sein Leben zu sehen ohne mit dem Allwissen des Todes gleich den wertenden Zeigefinger heben zu müssen. „Ja stimmt, es geht in diesem Album darum, dem Tod ins Auge zu blicken. Es geht um die Wahrheit. Ist schon komisch, dass man ein Album wie dieses braucht, um so Nahe an die Wahrheit zu kommen. So vielschichtig, so durchproduziert und so viele Kostüme, Uniformen und Masken und plötzlich kann man sich der Wahrheit stellen.“ Gerard wirkt nachdenklich als er darüber redet und man merkt ihm an, dass er sich mit dem Patienten identifiziert. Das ging sogar soweit, dass er sich während der Produktion in ihn verwandelt hat: „Ich wollte den Charakter durch mich durchleiten, ihm Nahe sein. Da ich sowieso extrem wenig geschlafen habe in der Zeit und total krank aussah, war es nur noch ein kleiner Schritt, mir die Haare zu schneiden und sie zu blondieren. Dadurch sah ich aus, als sei ich tatsächlich todkrank.“ Das er sich bei diesen Worten bestimmt schon die zehnte Zigarette anzündet und im grau-blauen Dunst verschwindet, verleiht dem Bild noch etwas mehr Nachdruck.

Die Verwandlung mittels Kostümen und Masken betrifft aber nicht alleine die Band, sondern spiegelt sich auch in der Musik wieder. Nach einigen schnelleren und punklastigen Stücken, typische My Chemical Romance Post-Hardcore-Songs, findet man sich unversehens am Wendepunkt des Albums “ der erste Single „Welcome To The Black Parade“. Der Patient erinnert sich an seine Kindheit und an eine Parade, zu der ihn sein Vater mitgenommen hat. Es erklingen Klavierklänge, ein Spielmannzug setzt ein und von Song zu Song beginnt sich eine große Zirkusshow zu entfalten. Gerard vergleicht das Arrangement des Albums mit einem Film, denn wie im Kino, muss sich die Story erst entfalten, bevor man in ihre Tiefen eindringt: „Wenn man zu ‚Welcome To The Black Parade‘ gelangt, dann ist das wie der Reset-Knopf. Man hat schon ein wenig der Entwicklung des Patienten erlebt, aber diese Erfahrung lässt einen alles neu entdecken und man beginnt von Null, sich darauf einzulassen. Es ist wie eine Erneuerung.“ Er hat recht, denn danach ist nichts mehr wie erwartet. Die schwarze Parade nimmt einen mit: Da ist eine zarte Ballade über verlorene Liebe, die einzig vom Flügel begleitet wird, da ist die in einen großen Broadway-Musicalsong á la Cabaret verpackte Erkenntnis über die Unheilbarkeit der Krankheit und da ist die in Walzer-Rythmus gekleidete Begegnung mit der Mutter des Krieges. Zwischen russischer Volksmusik und aufgebrochenen Songstrukturen, begleitet von einer Rockband singt dort Liza Minelli ein paar Zeilen. „Ich bin ein großer Fan von ihr, weil sie die Lieblingssängerin meiner Oma ist. Und das Album ist so burlesk und erinnert an Cabaret, da war die Entscheidung leicht. Liza ist die Quelle, ich meine, wer ist mehr Cabaret als Liza? Sie personifiziert diese Idee: Berlin, Kurt Weil, Cabaret. Es ging dabei um meine Erinnerungen, nicht um eine genaue Adaption. The Black Parade ist meine Umsetzung dieser Idee, eine Art Rock-Cabaret und da passte Liza voll ins Bild. Es war großartig, dass sie ja gesagt hat.“ Sie ist die Krönung einer Verwandlung im klassisch-mythischen Sinne, denn mit „The Black Parade“ haben My Chemical Romance sich einen künstlerischen Freiraum erschaffen. Sie spielen mit den Genres, überschreiten Grenzen und beweisen, dass es noch möglich ist, innovative Musik zu machen. Eine proteische Form verhilft ihnen dabei zu mehr Freiheit, ganz wie damals bei den alten Griechen.

Der Artikel ist erschienen im WOM Magazin Ausgabe 11/06.
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