Lifestyle

Der Maschinist

Zwischen Maschinenteilen fühlt er sich am wohlsten. Nicht nur beruflich hat Benjamin Rieck (30) am liebsten mit Federn, Zahnrädern, Kolben und Kabeln zu tun. Sein Faible geht ihm dank seines Sleeve-Tattoos nun buchstäblich unter die Haut.

Es ist ein unscheinbares, geradezu idyllisch gelegenes Rotklinkerhaus irgendwo mitten in Schleswig-Holstein. Im Garten blühen die Narzissen, ein Kombi steht in der Einfahrt und alles hier erinnert an dörfliche Gemütlichkeit. Die Nachbarn grüßen freundlich, wenn Benjamin Rieck am späten Nachmittag von seiner Arbeit nach Haus kommt – man kennt sich. Seine zwei Katzen, Heidi und Peter, warten schon sehnsüchtig an der Tür auf den gelernten Kfz-Mechaniker und lassen ihm kaum Zeit die Jacke auszuziehen, bevor sie vehement seine Aufmerksamkeit fordern. Hier ist einer der wenigen Orte in seinem Leben, an dem Rieck das Weiche und Organische vorzieht. Überall sonst hat das Mechanische Vorrang.

Auf der Arbeit, als Vorarbeiter in einer großen Bauschlosserei, ist Rieck für den korrekten Ablauf der Aufträge verantwortlich. „Ein Großteil des Jobs findet im Büro statt, aber ich kann auch jederzeit in die Werkstatt und selber Hand anlegen. Das ist ein großer Luxus für mich. Ich liebe Maschinen und habe meine Leidenschaft zum Beruf gemacht.“ Diese Leidenschaft für Maschinen durchzieht sein ganz Leben.

Er ist gerade einmal 18 als er sich, kurz vor dem Abschluss seiner Kfz-Mechaniker Lehre, zum ersten Mal tätowieren lässt. Ein befreundeter Tätowierer ist bereit zum Freundschaftspreis ein wenig zu experimentieren. Riecks erstes Tattoo entsteht in Etappen, privat und ohne Konzept, immer wieder erweitert, wenn Zeit und Geld es zulassen. Inspiriert von H.R. Gigers Werken lässt Rieck sich ein biomechanisches Motiv auf Oberarm und Brust stechen. Die Verbindung von Mensch und Mechanik (s. Kasten) ist für ihn Ausdruck seiner zweiten Leidenschaft. In seiner Freizeit schraubt Rieck an Motorrädern, baut Street Fighter und fährt diese mit großer Freude an Wochenenden zu Shows und Wettbewerben. Sein Leben ist auf das Hobby ausgerichtet, der Street Fighter mit seinen 150 PS bringt ihn binnen Sekunden auf 100 km/h. Aus dieser Zeit stammen der markante Schriftzug „Ride Hard, Live Free“ und der Stern an seinem Ellenbogen, Zeichen der Freiheit, die der Rausch der Straße ihm gibt. Doch das Limit für Geschwindigkeit setzt der Mensch, nicht die Maschine.

Es ist ein anderer Mensch der Rieck zum ersten Mal seine biologischen Grenzen aufzeigt. Als er auf einer Landstraße mit der Maschine ein Fahrzeug überholt, biegt vor ihm plötzlich ein anderes Fahrzeug unerwartet ab – Rieck bleibt nur die Vollbremsung, doch es ist zu spät. Das leichte und extrem leistungsstarke Motorrad ist nach dem wuchtigen Aufprall vollkommen zerstört. Rieck hat Glück, er überlebt, muss aber in den folgenden zwei Jahren langwierige Krankenhausaufenthalte über sich ergehen lassen. „Ich war zwei Jahre lang immer wieder im OP, die Narben auf meinem anderen Arm sind eine immer währende Erinnerung.“ Sein Körper wird dank der Arbeit der Chirurgen wieder zusammengesetzt, die Mechanik wieder zum Laufen gebracht.

Nach dem Unfall kehrt Rieck der Street Fighter Szene den Rücken, fährt zwar noch Motorrad, aber nicht mehr so aggressiv wie früher. Den Kick verlagert er auf eine andere Form des Radsports. Er greift zum manuell-mechanischen Antrieb, wird ein As auf dem Dirt Bike und holt sich den Nervenkitzel nun im Nachbarort, wo er zusammen mit anderen Bikern einen Parcours mit Rampen und Hindernissen gebaut hat. Auf der von Rieck ins Leben gerufenen DirtRanch, so der Name des Parcours, ersetzen Sprünge, Saltos und Drehungen mit Mountainbikes nun den Adrenalinrausch der Street Fighter. Ganz ohne Blessuren für das zu weiche Material Mensch geht das natürlich auch nicht von statten. „Ja, Unfälle sind bei den Stunts, die wir machen schon vorprogrammiert. Ohne geht es nicht.“ Aber Bikes kann man reparieren, Knochen heilen.

Vor zwei Jahren dann die Entscheidung, der Biomechanik den Rücken zu kehren und die unterschiedlichen Tattoos in ein Gesamtkonzept zu bringen. Die Überarbeitung dauert 14 Monate und umfasst den gesamten Arm, die Schulter und die Brust in der Form eines asiatischen Sleeves. Inspiration für die Motivik holt er sich aus seinem bisherigen Leben und seiner Leidenschaft für Mechanisches. „Das alte Motiv, die Biomechanik, war mir zu weich. Da war mir zu viel Organisches drin.“ Einzigartig sollte die neue Tätowierung sein, bloß nichts Trendiges oder schon einmal Dagewesenes. „Um die soften Formen der Biomechanik auszuschließen, haben wir bei der Konzeption des Sleeve nun harte, mechanisch-technische Komponenten in den Vordergrund gestellt. Ich habe dem Künstler einige Vorgaben gemacht: Gelenke, Federn, Zahnräder und mechanische Elemente. Einige biographische Momente sind auch drin. Das künstliche Herz pumpt bei 140 BPM, um meine Techno-Leidenschaft zu symbolisieren. In der Szene habe ich früher viel Zeit verbracht und noch immer ist das die Geschwindigkeit meines Herzschlags. Immer auf Adrenalin. Auch das Barometer geht in die selbe Richtung und repräsentiert den ständigen Hochdruck unter dem ich stehe.“

Doch auch sanftere, private Momente finden Einzug in das Design der Tätowierung. Seine langjährige Beziehung etwa: „Der digitale Equalizer ist eine Erinnerung an meine Partnerin: er zeigt das Datum unseres Kennenlernens. Ich wollte das verewigen.“

Der neue Sleeve ist härter als die ursprüngliche Biomechanik, ist eine eigenständige Entwicklung von Rieck und seinem Designer Christoph Linker, einen Airbrush-Künstler, den er aus der Street Fighter-Szene kennt und mit dem er befreundet ist. Die alten Tätowierungen werden entweder in das Design eingeflochten – wie etwa der Schriftzug und der Stern – oder in Form eines Cover-Ups überarbeitet. Das biomechanische Original ist nur noch in kleinen Abschnitten überhaupt zu erkennen. Linker und Rieck gestalten den Maschinisten-Sleeve im ersten Anlauf – die Freundschaft hilft dabei, die Lebensmomente und Passionen bildlich einzufangen.

Mit den Entwürfen dann macht Rieck sich auf die Suche nach einem Tattoo-Artist, der das Design des Airbrushers auf Haut umsetzen kann. Er wird in Bad Segeberg fündig, bei Chris Perera, einem Spezialisten für Asia-Motive. Die Arbeit an so umfänglichen Sleeves ist kein Problem für den Tätowierer und die detaillierten Vorlagen helfen dabei, alles wie geplant anzupassen. Über 5 Stunden tätowiert Perera in der ersten Sitzung an den Lines des Sleeve, um nicht ein zweites Mal die Schablone aufbringen zu müssen. Danach wird in regelmäßigen Sitzungen der gesamte Sleeve mit Schattierungen und Flächen gefüllt bis letztlich der Arm in seiner jetzigen Form vorliegt.

Doch damit ist noch lange nicht Schluss für Rieck. Aktuell hat er Termine, um dem schwarz-weißen Motiv noch farbige Akzente hinzuzufügen und er selbst gibt schon etwas verschmitzt zu, dass damit wohl auch noch keine Ende in Sicht sei. „Der zweite Arm ist ja noch da. Dort sind die ganzen Narben vom Unfall und ich könnte mir vorstellen, diese einerseits zu überdecken und sie andererseits thematisch im nächsten Sleeve aufzugreifen und mir eine permanente Erinnerung an diese Zeit stechen zu lassen.“ Das Projekt „Maschinist“ ist für ihn jedenfalls noch nicht abgeschlossen.

 

HR Giger und die Biomechanik

Hans Rudolf Giger, geboren 1940 in der Schweiz, gilt als einer der einflussreichsten zeitgenössischen Künstler der Welt. Für sein Design des Alien in Ridley Scotts gleichnamigen Film von 1979 gewann er den Oscar und weltweite Anerkennung und Ruhm. Er besitzt einen Abschluss als Industriedesigner und arbeitet daher nicht nur mit Airbrush, Öl, und Tinte, sondern erschafft auch Skulpturen, Möbel und sogar Musikinstrumente. Er arbeitet als künstlerischer Berater und Designer für Filmemacher, Musiker, und Architekten.

Er ist berühmt für seine als „Biomechanoid“ bezeichneten Werke, in denen er Technik, Mechanik und Organisches vermischt und so auf die Technisierung des Lebens hinweist. Die verschlungenen Landschaften aus Röhrensystemen, die zugleich Tentakel oder Adern sein könnten oder auch die hybriden Humanoiden, bestehend aus Mensch und Maschine sind zu seinem Markenzeichen geworden. Inspiriert von diesen Werken und der deutlichen Vermischung von Technologie und Natur entstand der Tattoo-Stil der Biomechanik, der organische weiche Strukturen mit harten mechanisch-technoiden Aspekten mischt und so zu düsteren Bildlandschaften verschmilzt.

 

Interview mit dem Maschinisten

Wie ist die Idee zum Maschinisten entstanden?

Mein altes Tattoo war ein von Giger inspiriertes Oberarm/Brust-Tattoo, allerdings war das aufgrund der Umstände mit dem Tätowierer damals nicht ideal gearbeitet. Es war einfach ohne ein Konzept gestochen. Wir haben damals beim Tätowierer zu Hause  immer mal wieder dran gearbeitet, es aber nie fertiggestellt. Ich habe mich lange darüber geärgert und mich dann vor ein paar Jahren dazu entschlossen, das überarbeiten zu lassen. Und dann kam die Idee auf, wenn schon, dann gleich richtig …

Und warum gerade die Maschinen-Elemente als Motiv?

Die Biomechanik war ein guter Ausgangspunkt, aber das war mir zu weich. Ich wollte härtere Elemente, das Biologische aus dem Ganzen rausnehmen und dafür noch mehr auf Dampfmechanik und so etwas hinaus. Das sollte meine Leidenschaft und meinen Beruf aufgreifen. Das Rumschrauben an Autos und Motorrädern. Ich wollte Zahnräder, Federn, Dampfuhren und ähnliches haben. Aber ein paar andere Elemente sind auch dabei, wie etwa das Auge, die Totenschädel. Es ist ein Gesamtbild, dass viele unterschiedliche Aspekte vereint.

Wieso hast du einen japanischen Sleeve als Format dafür gewählt?

Das kam sicher auch durch Chris Perera, meinen Tätowierer. Dessen Spezialität sind Asian Tattoos, aber nur wenige lassen sich so etwas stechen. Er versucht mich ständig zu überreden, mir den zweiten Sleeve als Asia stechen zu lassen, aber das ist nicht so meins. Die Idee das Format des Sleeves, das ja üblicherweise in kräftigen Farben und mit sehr weichen, runden Formen wie Tieren oder Blumen gearbeitet wird, mit den harten mechanischen Elementen zu kombinieren fand ich spannend. Gerade der Kontrast der beiden Stile hat mich gereizt.

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Christoph Linker, deinem Designer?

Christoph arbeitet sehr viel mit Airbrush. Da ich früher sehr stark in der Street Fighter-Szene aktiv war und Motorräder umgebaut habe, haben wir uns darüber kennen gelernt. Er hat meinen Street Fighter gebrusht und andere Bikes, die ich gebaut habe. Dadurch kennt er meinen Stil und meine Vorlieben sehr gut. Als ich ihm von der Idee des Tattoos erzählt habe, hat er angefangen zu zeichnen. Er kennt mich so gut, dass der gesamte Sleeve im ersten Versuch entstanden ist. Keine Änderungen, keine Beanstandungen.

Und wie war das Stechen selbst?

Chris Perera aus Bad Segeberg hat das gestochen, aber er war schon ganz froh sich nicht an dem Design probieren zu müssen. Wir haben ihm eine Papiervorlage geliefert, die er dann als Schablone auf dem Arm genau angepasst hat. Die gesamten Linien haben wir dann, weil die Schablone zu schwierig anzupassen war, in einer einzelnen Sitzung gestochen. Das waren fünfeinhalb Stunden – eine ziemliche Marathonsitzung. Für das Ausfüllen und Schattieren haben wir uns dann mehr Zeit gelassen, aber die Linien mussten nun einmal drauf sein.

Und wie geht es weiter?

Aktuell wollen wir in den bestehenden Sleeve noch Farbakzente einsetzen. Also die Stoßdämpfer-Federn beispielsweise rot einfärben, das Auge blau akzentuieren oder auch die mechanische Anzeige mit einem roten Zeiger versehen. Aber wenn das fertig ist, dann gibt es da ja immer noch den ganzen anderen Arm und ein weiterer Sleeve wäre schon allein für die Symmetrie sicher interessant. Mal sehen, was Christoph und ich da entwickeln und ob Chris dann Lust hat, das zu stechen.

 

In editierter Form erschienen in Perfect Ink #1/2013.