Ein Nobelpreis für Fantastik?

Der Nobelpreis für Literatur 2017 geht an den japanisch-britischen Autor Kazuo Ishiguro, „der in Romanen von starker emotionaler Wirkung den Abgrund in unserer vermeintlichen Verbundenheit mit der Welt aufgedeckt hat“, so die Begründung der schwedischen Akademie. Sein Kollege Neil Gaiman schreibt im Guardian sogleich über den Geehrten: „Kazuo Ishiguro ist ein guter, ernster, brillanter und hart arbeitender Schriftsteller, der niemals davor zurückgeschreckt ist, die großen Themen anzugehen, noch davor Science Fiction (Alles, was wir geben mussten) oder Fantasy (Der begrabene Riese) als Vehikel zu nutzen, mit denen er diese Ideen transportieren konnte.“

Dabei steht Gaiman mit seiner Zuordnung Ishiguros zur Fantastik nicht unbedingt unangefochten dar – zumindest wird sein Roman Der begrabene Riese von seinem eigenen Verlag eher als hochliterarischer Reiseroman vermarktet und der Autor für seinen „unprätentiösen und zugleich betörenden Realismus“ gelobt. Die Begriffe „Fantastik“, „Fantasy“, „Drache“ oder „Oger“ kommen jedenfalls nirgendwo im Marketing zum Buch vor. Auch Ishiguro selbst war sich nicht sicher, wie sein Publikum und die Kritik auf die fantastischen Elemente reagieren würden. Im Interview mit der New York Times befürchtete er eine Voreingenommenheit gegen die „Oberflächenelemente“ und fragte sich „Werden sie sagen, dass es Fantasy ist?“

Wie schwierig die Zuordnung zu den fantastischen Genres für eine AutorIn sein kann und welche Automatismen sowohl bei literarischer Kritik als auch im Genre selbst aufgerufen werden, sieht man an der Debatte, die in Feuilletons und Literaturblogs nach der Veröffentlichung des Romans aufkam. Ursula K. Le Guin rieb sich an Ishiguros Worten zur Fantasy und schrieb auf einem Blog, der Autor befürchtete wohl eine Zuordnung zum Genre, die seine „autorielle Gravität mit kindlichen Anflügen der Fantasy“ unterlaufen könnte. Auch wenn Ishiguro selbst bei Interviews betont, er stelle sich nicht gegen die Fantasy, sprechen er und andere als Hochliteraten angesehene AutorInnen wie David Mitchell (Autor von Wolkenatlas und Die Knochenuhren) oder Margaret Atwood (Autorin von Das Herz kommt zuletzt und Der Report der Magd) immer wieder von einem Stigma der Fantasy und Science Fiction. Da hilft es auch nicht, dass Ishiguro die Funktion von Genre insgesamt in Frage stellt und im Gespräch mit Gaiman zu einer simplen Masche des Marketings degradiert, die künstliche Grenzen hochziehe und die große Literaten schon immer zu überspringen wussten. Der Verweis auf einen Grenzübertritt ist leider doch eine Bestätigung, dass die Grenze existiert, oder? Und für Genrefans stellt sich die Frage doch auch so: Ist Kazuo Ishiguro nun ein Autor der Fantastik oder nicht?

Ja: Ishiguro, der Fantast

Natürlich ist Ishiguro ein Autor der Fantastik, denn die Fantastik bietet ja einen riesigen Raum an unterschiedlichen Spielarten und darunter fällt eben auch der neue Nobelpreisträger. Sein Roman Alles, was wir geben mussten setzt etwa die Prämisse einer Gesellschaft, in der sich reiche Menschen Klone erschaffen, um für evtl. Unfälle oder Krankheiten gewappnet zu sein. Eindeutig also ein Science Fiction Novum, wie es gerne als zentrales Genreelement gesetzt wird. Ähnlich zu finden in Hollywoodfilmen wie Michael Bays Die Insel, in Michael Marshall Smiths Roman Geklont oder in Charlotte Kerners Blueprint/Blaupause. Wenn man also die Präsenz eines solchen Novums – einer neuen und alles verändernden Technologie etwa – als Kennzeichen für SF ansieht, dann erfüllt der Roman dies. Auch Der begrabene Riese kann ein solches definierendes Kriterium aufweisen, wie es in der Fantasy häufig gesetzt wird: die zweifelsfreie Präsenz von Magie und magischen Wesen. Im Roman gibt es einen Drachen, dessen magischer Atem als ein Nebel des Vergessens über das Land weht und der allen Bewohnern die Erinnerung stiehlt. Und da mit diesem Drachen interagiert wird, seine Existenz niemals in Frage gestellt ist, ist das ein eindeutiges Zeichen für Fantasy.

Aber selbst, wenn man von solchen „präskriptiven“ Markern von Genre absieht und sich der soziologischen Seite zuwendet, also der Idee folgt, dass Genre eine Art Vertrag zwischen AutorInnen und LeserInnen ist, der bestimmte Erwartungen und Haltungen an das Buch festlegt. Selbst dann, wenn Genre immer wieder neu von Praxisgemeinschaften (also denen, die ein Buch „nutzen“ – schreiben, verkaufen, publizieren, lesen, darüber reden etc.) bestimmt wird, mit jedem neuen Buch, das jemand einem Genre zuschreibt, selbst dann ist Ishiguro ein Autor der Fantastik. Science Fiction Fans und Kritiker haben Alles, was wir geben mussten gelesen und als SF bewertet, sie haben es diskutiert und wie ich gerade eben in einen Kontext mit anderen Werken der SF gestellt. Fantasy-Autoren wie Le Guin und Gaiman haben Der begrabene Riese diskutiert und rezensiert, sie haben auf die Fantasy im Buch hingewiesen und damit den Roman automatisch ins Genre geholt, ob nun ins Zentrum oder an den äußersten Rand ist dabei egal. Ishiguro ist also auf jeden Fall ein Autor fantastischer Bücher und jeder, der Fantastik liest kann in die Diskussion eingreifen und für sich selbst bestimmen, wie viel Genre er darin wiederfindet.

Nein: Ishiguro, der postmoderne Literat

Natürlich ist Ishiguro kein Autor der Fantastik, weil seine Werke nicht den literarischen Konventionen der Science Fiction oder Fantasy entsprechen, sondern vielmehr der postmodernen oder realistischen Hochliteratur. Alles, was wir geben mussten erzählt zwar von Klontechnologie, ist aber literarisch ein Roman realistischer Konventionen, der das Zusammenleben einiger Internatsschüler beschreibt und deren Umgang mit drohender Sterblichkeit. Es geht nicht um die Veränderung der Gesellschaft durch Technologie. Es geht darum, wie Menschen mit dem Tod umgehen, wie sich Gemeinschaften gegen Verlust wehren oder mit der eigenen Vergänglichkeit umgehen. Die Klontechnologie wäre auch durch eine besondere Krankheit oder eine Strahlenvergiftung oder einen erblichen Defekt ersetzbar – der Fokus der Geschichte ist die realistische Darstellung von Verlust.

Ähnlich ist Der begrabene Riesekein Fantasy-Roman, da es Ishiguro nicht um die Sekundärwelt geht, wie Tolkien einmal so schön für das Genre feststellte. Vielmehr hat Ishiguro selbst darauf verwiesen, dass es ihm um die Frage eines kollektiven Gedächtnisses geht und darum, wie Gesellschaften sich von Traumata erholen können. Den Anstrich der Fantasy brauchte er, damit die Idee nicht vom Abstrakten ins Konkrete rutscht, es eben nicht nur um den 2. Weltkrieg, um Bosnien oder den Mittleren Osten gehe: „Ich wollte vermeiden, dass die Leute es nicht zu wörtlich nehmen und nicht sagen, oh ein Buch über den Jugoslawien-Krieg“, sagte er der New York Times. Die Verwendung von Fantasy-Tropen ist für den Roman ein Stilmittel, allegorischer Ausdruck größerer, abstrakter Ideen, die sich der Autor frei aus allen verfügbaren Stilmitteln zusammenstellt. Ishiguro spielt mit Fantasy als Versatzstück, wie er auch mit der mittelalterlichen Ballade, einem archaischen Prosastil oder dem Artus-Mythos als Hintergrund spielt – und das ist Teil eines postmodernen Verständnisses von Literatur, das sich konsequent gegen Konventionen stellt und alles nutzt, mit allem spielt, was literarisch möglich ist.

Jein: Ishiguro, der Brückenbauer

Die Tatsache, dass die Fantastik „entstigmatisiert“ werden kann, wie David Mitchell anlässlich Ishiguros Roman behauptet, zeigt die Grenzverläufe allerdings noch sehr deutlich auf. Dabei haben beide oben genannten Positionen Recht – es kommt eben auf die Sicht an, wie man Genre definieren möchte und was man, als Leser, von einem Roman der Fantastik erwartet. Wer zu Ishiguros Büchern greift und dort Fantasy à la Tolkien oder SF im Sinne einer Space Opera erwartet, der liegt grundlegend falsch. Genre als Marketingkategorie oder formulaischer Erfüllung von Lese-Erwartungen ist nicht vereinbar mit dem Nobelpreis für Literatur. Vielmehr vermag es Ishiguro Genrekonventionen herauszufordern. Spannend ist, dass dies von Fantasy-LeserInnen erfordert, sich auch mal frustrieren zu lassen, keine Informationen zur Welt zu erhalten und die abstrakte Bedeutung hinter den Worten herauszufiltern. Von hochliterarischen Lesern jedoch verlangt es, eine andere Weltsicht zuzulassen, sogar eine völlig andere Welt zuzulassen und diese nicht aus Angst vor dem Unbekannten direkt abzutun. Die Konventionen, die hier überschritten werden, sind meiner Meinung nach also nicht die der Fantasy oder der Science Fiction – in diesen Genres war schon immer viel Platz für viele verschiedene Welten – sondern die des Realismus. Insofern ist der Nobelpreis für Ishiguro dann auch ein Stück weit ein Nobelpreis für die Fantastik.

 

Ursprünglich erschienen auf TOR ONLINE am 08.10.2017