Weg mit dem Klischee
Rocker sind harte Kerle, tätowiert und bärtig, gerne auch mit langer Haarpracht zum Schütteln. Sie saufen, fahren Harley Davidson und rauchen wie ein alter Kamin. Oder etwa nicht?
Die Tochter meiner Nachbarn ist süße Sechzehn und ein aufmüpfiger Teenager. Ihr Alter verbirgt sie hinter einer dicken Schicht Schminke und gespieltem Selbstbewusstsein. Am Girls‘ Day war sie zu Besuch in der Werkstatt von Vaters Sanitärunternehmen und der Kommentar, den sie am Abend für die Aktion überhatte, bedeutete vieles, aber bestimmt nicht, dass sie eine Karriere im Familienbetrieb anstrebte. Vielleicht hätte sie stattdessen lieber über andere Karrierfelder nachdenken sollen, in denen Frauen bislang Mangelware sind. Wie die harte Rockmusik zum Beispiel. Neben Doro Pesch gibt es da zumindest in Deutschland kaum nennenswerte Vertreter und auch international muss man lange suchen, um wirklich harte Rockerinnen zu finden. Fündig könnte man zum Beispiel in Kanada werden, wo sich 1995 eine junge Frau selbst zur Königin der Rockmusik gekührt hat: Bif Naked.
Dabei klingt die Geschichte der Rock-Queen fast mythisch. Sie ist die verbotene Lendenfrucht einer jungen kanadischen Missionarin, die sich mit einem indischen Jungen eingelassen hatte und in Furcht vor einem Skandal in eine psychatrische Klinik eingewiesen wurde. Von den indischen Behörden „Baby G.“ getauft, wurde sie von einem amerikanischen Paar adoptiert und verbrachte ihre Kindheit in den USA. Als sie dreizehn war zog ihre Familie ins kanadische Ödland in der Mitte des Kontinents. Hätte es damals schon einen Girls‘ Day gegeben, Bif hätte sich bestimmt bei einer Rockband vorgestellt. Denn in Mitten des Flachlandes gab es für die Jugend nichts zu tun, außer sich zu besaufen, Scheiße zu bauen und jede Menge Rock zu hören. In der Schule lernte sie ein paar Jungs kennen, die sich Gorilla Gorilla nannten und schräge Punk-Metal-Coverversionen spielten. Bif war schwer beeindruckt und liess sich auf Spiel mit dem Feuer ein. Sie wurde Sängerin und sexy Aushängeschild für Jungle Milk, heiratete zu jung einen Musikerkollegen und war ständig breit. „Ich hatte eine ganz furchtbare Alkohol-Intoleranz. Ein Esslöffel Bier und ich war breit bis zur Besinnungslosigkeit. Und das passierte mir ständig. Mich auf ein Date einzuladen war ziemlich billig, ich war das beliebteste Mädchen in der High School. Es hat für mich nie funktioniert. Ich habe ein paar sehr miese Entscheidungen getroffen, wie man das eben so tut, wenn die Sicht vernebelt ist“, erklärt Bif ihre damalige Situation. Die Ehe hielt nur kurz und Bif wusste, dass sie ihr Leben ändern musste, oder sie würde draufgehen.
Der entscheidende Einschnitt in ihrem Leben kam als sie nach Vancouver zog, ihre Lebensweise der Straight Edge-Philosophie anpasste und ihre erste Soloplatte auf den Markt brachte. „Nach mehreren Alkoholvergiftungen brauchte ich eine neue Ausrichtung. Eine Freundin war Straight Edge und sie war trotzdem immer die coolste Braut auf der Party. Also dachte ich mir: das willst du auch. Du willst ein Vorbild sein, eine Aussage damit treffen.“ Seitdem trinkt sie nicht mehr, raucht nicht, nimmt keine Drogen und ernährt sich komplett vegan. Eine Radikalkur. Und ein absoluter Widerspruch zu den Idealen der restlichen Rockwelt. Doch für sie ist diese Entscheidung, das wichtigste, was sie jungen Mädchen mitgeben kann. Wenn sie jungen Girl-Bands begegnet, die für harte Mannsbilder die Vorband mimen, dann wird sie richtig stinkig: „Ich habe keine Respekt für diese Rock-Häschen, die momentan die kanadische Musikwelt bevölkern. Ich werde stinksauer wenn ich das sehe. Die geben dem Rock ein beschissenes Image, weil sie nur mit der Band vögeln wollen, deren Vorband sie sind. So werden die nie zu richtigen Rockern. Das ist das falsche Ziel.“
Bifs Ziel dagegen heißt jede Menge Spaß an der Musik zu haben, ein kreatives Outlet zu finden und dabei auch noch eine positive Botschaft zu verbreiten. Dafür hat sie sich selbst erfunden. Sie gründete mit Her Royal Majestys Records ihre eigenes Label, suchte sich für ihre Platten einige talentierte Songschreiber, wie etwa Jimmy Allen von Puddle of Mudd, und begann mit der musikalischen Selbstverwirklichung. Seit 1995 hat sie es mittlerweile auf fünf Alben gebracht, mit „Spaceman“ eine veritable Hitsingle gehabt und auch sonst so einiges an Auszeichnungen abgeräumt. Sie war Moderatorin bei MTV und sahnte bei den Juno-Awards ab, dem kanadischen Pendant zum Echo. Ganz nebenbei ist sie auch noch Extrem-Sportlerin: sie fährt BMX, Snow- und Skateboard und macht Bodybuilding. Ein Powerpaket eben. Sie sagt von sich selbst, sie sei „Hardcore“ und erklärt dann lachend, „Hardcore heißt ich mache alles selbst, und gebe immer 100 Prozent. Nicht Hardcore im Sinne von Sicherheitsnadeln und Irokesenschnitt.“
Ihr Äußeres spielt aber dennoch eine gewichtige Rolle, denn mit ihren über 30 Tätowierungen und der Betty-Page-Frisur hat sich Bif ein klar definiertes Image geschaffen. Ein Image, dass sich verselbständigt hat. Sie wird gerne als böse dreinblickende Rockerin dargestellt und ist so zu Kanadas „Hottest Female in Rock“ gewählt worden. MTV hat sie sogar noch vor Pink und Christina Aguilera zur „Sexiest Female with Tattoos“ gekührt. Sie kann darüber nur den Kopf schütteln: „So eine angebliche Ehrung zu bekommen ist seltsam. Ich habe mich schließlich nicht selber nominiert. Du hörst so etwas und denkst dir, okay, und was soll ich jetzt tun? Ich habe das nicht gewollt, das ist einfach passiert.“ Diese Haltung musste sie sich erst antrainieren, die kommt nicht von selber. Auf ihrem Debüt findet sich noch ein Song, der die Fleischmarkt-Mentalität von Männern an den Pranger stellt. „Ich war damals 23 und verdammt sauer. Ich war das Opfer sexuellen Missbrauchs und trennte mich gerade von meinem Mann. Ich war das, was man ‚angry white female‘ nennt.“ Mittlerweile ist sie älter geworden und sieht die Dinge differenzierter: „Ich denke nicht, dass Nacktheit etwas Falsches ist, weil Nacktheit und Sexualität zwei unterschiedliche Dinge sind. Ich fühle mich jetzt einfach wohl in meiner Haut. Da kann ich auch ein Fotoshooting für einen Kalender machen und das ok finden.“ Auch in diesem Punkt ist sie sich ihrer Vorbildrolle für junge Mädchen bewußt und schlägt in eine ähnliche Kerbe wie Pink mit ihren „Stupid Girls“: „Ich habe mich gefragt, wie ich junge Mädchen bestärken kann. Die Antwort ist einfach. Ich kann darauf verzichten, eine Brustvergrößerung zu bekommen. Ich kann die einzige Frau in Vancouvers Unterhaltungsbranche sein, die nicht mit Silikon in den Titten rumläuft. Ich kann meinen Fans sagen, dass sie sich selbstbewußt in dieser Welt bewegen sollen, dass sie nicht promiskuitiv sein müssen, dass sie nicht ihren Körper verunstalten und sich ihre Brüste operieren lassen müssen. Du musst gar nichts davon tun, du musst nur das tun, was du auch selber willst. Und das jeden Tag. Und letztlich lebe ich mein eigenes Leben genau so.“
Vorbildfunktion ist das Stichwort. Bif will niemanden bekehren. Sie missioniert ihre Bandkollegen nicht, die nach einem Gig auch gerne mal dem Alkoholgenuß fröhnen. „Das passt wunderbar“, sagt sie und lacht, „die feiern gerne und ich fahre gerne Auto.“ Was heißt denn da Auto? Sie fährt vor allem auch gerne Motorrad, wie sich jetzt herausgestellt hat. Der Ur-amerikanische Konzern Harley Davidson hat die Kanadierin als Testimonial gewinnen können. Auf den im Juli stattfindenden Harley Days in Hamburg wird Bif Naked als Headliner zu sehen sein, ebenso wie sie weitere Events des Bike-Herstellers unterstützen wird. Hier wird wiedermal auf das harte, sexy Rocker-Image gebaut. Ein Klischee, aber eines mit dem Bif gelernt hat, umzugehen. Sie spielt damit und lächelt in persona sonnig dagegen an. Bif wäre jemand, dem auch meine 16-jährige Nachbarin einiges Positives abgewinnen könnte. Zumindest in Theorie, denn eigentlich steht sie wie die meisten Teenager auf Beyonce und träumt vom Hüftenwackeln in Videos mit geilen Rappern und dicken Autos. Wie schade.
Der Artikel ist als Titelstory im WOM Magazin Ausgabe 06/2006 erschienen.